Shennong – „The Divine Farmer“ und mythischer Urvater der Entdeckung von Tee als Getränk
1. Legende von der Entdeckung des Tees als Getränk
Prolog
Sicher kennt so ziemlich jeder bereits die bekannte Legende von dem chinesischen Kaiser Shennong und wie dieser vor 5000 Jahren Tee als Getränk entdeckte. Schließlich ist die darin dargestellte Version von der Entdeckung der Eignung der Blätter der Camellia Sinensis für die Zubereitung eines gesunden und schmackhaften Aufgussgetränks in den Tee-Blogs dieser Welt und anderen einschlägigen Publikationen zum Thema Tee-Geschichte von einer gewissen Omnipräsenz.
Wie sehr diese Geschichte der Geschichte aber fehlt, wenn weggelassen, das fiel mir erst auf, als ich nun genau dies tat. Ich begann meinen Abriss der Geschichte des Tees als Getränk in China mit den historischen Daten und Fakten statt mit den Legenden, und das Ergebnis war die dauerhafte Präsenz einer emotional gefühlten, ja, fast als schmerzhaft empfundenen Lücke genau am Anfang meiner Darstellung. Bis ich es schließlich nicht mehr aushielt. Deshalb nun auch hier und einmal mehr: die Legende von Shennong und der Entdeckung von Tee als Getränk.
Shennong-Darstellung als pflügender Bauer (Han-Dyn.)
Die Shennong-Legende
Die chinesische Legende über die Entdeckung von Tee als Getränk spielt an einem Schönwettertag im Jahr 2737 v. Chr. Ihr Hauptdarsteller ist ein chinesischer „Kaiser“ namens Shennong. Dieser saß eines Tages im kaiserlichen Palastgarten, als der Wind ein Blatt von einem Teebaum genau in seine mit Wasser gefüllte Schale wehte. Das Ergebnis entpuppte sich bei Verkostung als schmackhaft und zeigte eine angenehm belebende Wirkung. Und Shennong nutzte fortan seine kaiserliche Stellung, um den Tee als Getränk unter seinen Untertanen zu propagieren.
Shennong-Darstellung als Kräuterforscher
2. Tatsachen des Ursprungs und der Entwicklung von Tee als Getränk in China
Soweit die Legende… nun, Legende hin, Legende her, die Geschichte scheint zumindest einen „wahren Kern“ zu haben. Es existieren Belege dafür, dass eine Person mit dem Namen Shennong zur fraglichen Zeit tatsächlich existiert hat. Er wird als Vater der Kräuterheilkunde und des landwirtschaftlichen Anbaus weit über die Grenzen Chinas hinaus verehrt. So beispielsweise auch in Vietnam, Taiwan und Japan, wo jeweils Shennong geweihte Tempel zu finden sind.
Die historischen Belege weisen allerdings eher auf einen Heilkundigen, Kräuter- und Agrarforscher hin als auf einen „Kaiser“, wie wir ihn uns vorstellen. Der Name Shennong bedeutet so viel wie „Göttlicher Farmer“. In einigen Quellen er auch als „Herrscher der 5 Samenkörner“ bezeichnet. Ein frühes chinesisches Werk über Heilkräuter, das Shennong Beng Cao Jing wurde zwar erst lange nach seiner Zeit kompiliert, die Inhalte gehen aber angeblich auf orale Überlieferungen Shennongs zurück.
Shennong Beng Cao Jing
Die genauen Tatsachen und Einzelheiten rund um die Person Shennong verschwinden letztlich im Nebel der Zeit. Klar ist aber, dass der Ursprung des Genusses von Tee als Getränk – sowie anderweitig, und ob nun zu medizinischen oder Genusszwecken – definitiv in China liegt.
2.1. Erster Nachweis des Gebrauchs von Tee in China
Lange Zeit waren schriftliche Belege aus dem 3. und 4. Jahrhundert n. Chr. die ersten Nachweise des Konsums von Tee. Dass Teeblätter in China auch schon deutlich früher entweder genossen oder für medizinische Zwecke verwendet wurden, ist nach einem jüngsten Fund des ältesten existierenden Tees der Welt nun aber ebenfalls erwiesen. Beilagen im Grab des vierten Herrschers der Han- Dynastie, Liu Qi, und seiner Frau enthalten nebst anderem erwiesenermaßen auch Teeblätter. Das Phänomenale an dem Fund ist, dass der dort bestattete Herrscher zwischen 188 und 141 v.Chr. lebte. Der älteste bisherige Teeblätter-Fund fällt dagegen erst in die Zeit der Tang-Dynastie (618-907 n. Chr.).
2.2. Tee als Medizinkraut in der traditionellen chinesischen Heilkunde
Trotzdem besteht für Teeliebhaber, die ihr Lieblingsgetränk nur allzu gern schon vor 2100 Jahren auf dem Gaumen von Genießern gewusst hätten, nur verhaltener Grund zum Jubel. Denn ob Liu Qi und seine Zeitgenossen ihren Tee tatsächlich getrunken haben, ist keineswegs belegt. Noch weniger belegt ist, ob sie dies zum Zwecke des Genusses getan haben. Tatsächlich weist nämlich vieles darauf hin, dass Teeblätter zu Zeiten der Han-Dynastie (206 v. Chr. – 220 n. Chr.) zwar bereits Verwendung fanden, dies aber vor allem als Heilkraut, also zu medizinischen Zwecken. Auch wurden sie zu solchen Zwecken seinerzeit nicht etwa aufgegossen, sondern entweder verspeist oder einem Sud als Zutat hinzugegeben. Weiter wurde Tee auch nach seiner Entdeckung als schmackhaftes Getränk zunächst wahrscheinlich überwiegend unverarbeitet, also frisch gepflückt aufgegossen.
2.3. Anfänge des Teegenusses in China
Dennoch lässt der Grabfund, nebst späteren schriftlichen Erwähnungen des Tees aus Zeiten der Han-Dynastie, zumindest vermuten, dass Tee auch zu dieser Zeit bereits als Genussmittel bekannt und als solches dem kaiserlichen Hof und der Adelskaste vorbehalten gewesen sein könnte.
Etwa ab dem 2. oder 3. Jahrhundert n. Chr. wurde Tee in China dann – ob nun zu medizinischen oder zu Genusszwecken – auch angebaut. Während des 4. und 5. Jahrhundert stieg die Popularität von Tee als Getränk in China rasch an. Anbau- und Verarbeitungstechniken wurden verfeinert und weiterentwickelt. Der Teegenuss als Brauch setzte sich in immer weiteren Kreisen der „besseren“ Gesellschaft Chinas durch. Zu dieser Zeit war es üblich, den Teeblättern zur Zubereitung eines Getränks Zutaten wie Reis, Salz, Gewürze und Orangenschalen hinzuzumischen.
Das „Goldene Zeitalter des Tees“: Die Tang-Dynastie – zeitgenössisches Höhlengemälde
2.4. Das “Goldene Zeitalter des Tees”
Die Zeit der Tang-Dynastie (618-907) wird oft als das Goldene Zeitalter des Tees bezeichnet. Tee etablierte sich als wertvolles Geschenk oder Tauschmittel in den höchsten Kreisen, d. h. am kaiserlichen Hof, innerhalb des Adels, aber auch im internationalen Verkehr. Sein Genuss war nun nicht mehr rein medizinischen Zwecken vorbehalten, sondern wurde immer mehr auch ausdrücklich um seiner selbst willen gepflegt.
Verarbeitungsstandard jener Zeit war das Pressen und Rösten grüner Teeblätter. Der so verarbeitete Tee, sozusagen die Urform des Pu Erh Tee, wurde dann in der Regel zu Pulver gemahlen und mit gesalzenem oder anderweitig gewürztem kochendem Wasser aufgegossen. Allerdings entwickelten sich während dieser Zeit auch bereits erste Verarbeitungsvariationen, wie beispielsweise die Herstellung von gelbem sowie von weißem Tee. Auch eine Ritualisierung der Teezubereitung und des Teegenusses als Zeremonie oder Kunstform zeichnet sich hier zum ersten Mal ab. Der Genuss von Tee als Getränk und der damit verbundenen kulturellen Segnungen blieb jedoch nach wie vor höchsten gesellschaftlichen Kreisen und dem kaiserlichen Hof vorbehalten.
2.5. Lu Yu und das Cha Ching
Bis in die heutige Zeit erhaltenes Produkt der Teekultur Chinas in jener Zeit ist das literarische Werk „Cha Ching“. Autor des 760 erschienenen Buches ist der chinesische Tee-Gelehrte und später als „Tee-Heiliger“ in die Geschichte Chinas eingegangene Lu Yu (728-804). Dieser war als hochbegabtes Waisenkind am kaiserlichen Hof aufgenommen und erzogen worden. Später widmete er sein Leben und Werk der Erforschung des Tees und dessen Zubereitung. „Cha Ching“, ein historischer Meilenstein des Werdegangs von Tee als Getränk, bedeutet übersetzt in etwa „Das klassische Buch vom Tee“. In zehn kurzen Kapiteln behandelt der Autor praktisch alle wichtigen Aspekte der damaligen Teeherstellung und Teekultur. Entsprechend liest sich das Inhaltsverzeichnis seines Werks:
- Kapitel I: Ursprünge des Tees
- “ II: Gerätschaften zum Lesen und zur Verarbeitung der Teeblätter
- “ III: Herstellung des Tees
- “ IV: Gerätschaften zur Zubereitung des Tees
- “ V: Aufgießen des Tees
- “ VI: Wie man Tee trinkt
- “ VII: Tee in den alten Texten
- “ VIII: Anbaugebiete der Spitzentees
- “ IX: Verschiedenes
- “ X: Übersicht zu dem Werk
Ist es nicht eine gelungene Ironie, dass ein Buch über Tee aus dem Jahr 760 n. Chr. ein Kapitel mit dem Titel „Tee in den alten Texten“ enthält? Nun, eine „alte Zeit“ gibt es wohl aus der Perspektive einer jeden „Neuzeit“…
Handelsrouten der alten Tee-Pferde-Straße (ca. 800 n. Chr. – 20. Jahrh.)
2.6. Die Tee-Pferde-Straße von Yunnan nach Lhasa
Bis zu dem oben erwähnten Fund von Teeblatt-Resten aus dem Jahr 141 v. Chr. im Grab eines Han-Kaisers war man allgemein der Auffassung, die Tee-Pferde-Straße, ein System von Handelswegen, die China mit Tibet verbanden, seit erst um die Jahrtausendwende etabliert worden. Anhand besagten Tee-Fundes kann jedoch belegt werden, dass dieser Handelsweg – mit Tee als Handelsware – schon mindestens 200 Jahre früher in Betrieb gewesen sein muss. Auf der Tee-Pferde-Straße wurde in ersten Linie Tee von Südchina aus (z. B. Pu Erh und Xishuangbanna in Yunnan) bis nach Tibet gebracht. Dort wurde der Tee gegen Pferde eingetauscht, die in China für militärische und andere Zwecke benötigt wurden.
Tibetisches Dorf an der alten Tee-Pferde-Straße
2.7. Die Erfindung des „Matcha“-Tees
Die Song-Dynastie (960-1279) brachte eine neue Zubereitungsvariante der bis dahin mit kochend heißem Wasser aufgegossenen, zu feinem Pulver zermahlenen Teeblätter mit sich: das Aufschäumen. Im Grunde genommen sehen wir hier die Geburtsstunde des Matcha-Tees. Aus heutiger Sicht mag es so erscheinen, als sei der Matcha-Tee eine japanische Erfindung. Der moderne Matcha-Markt wird von japanischen Produkten dominiert, Matcha-Tee ist der Tee der japanischen Teezeremonie, und Matcha wird uns als DAS Volksgetränk Nr.1 in Japan vorgestellt. Tatsächlich wurde in China aber bereits zu Zeiten der Tang-Dynastie feines grünes Teepulver nicht nur mit dem Bambusbesen aufgeschlagen, sondern auch bereits auf die gleiche Weise aus von Stängeln und Blattrippen befreiten Tencha-Blättern hergestellt, wie wir dies heute aus Japan kennen.
Die Verarbeitung von Tencha zu feinem Pulver (chin.: „Mocha“) und das Aufschlagen desselben in heißem Wasser kam in China aber bald wieder aus der Mode. Auch wenn pulverisierter grüner Tee in China auch heute noch – oder vielmehr: wieder – hergestellt wird, spielt er dort spätestens seit dem Aufkommen und Siegeszug einer völlig neuen Zubereitungsmethode, nämlich des Aufgießens ganzer Teeblätter (siehe 2.6. unten), keine nennenswerte Rolle mehr.
2.8. Tee wie wir ihn kennen
Das 13. Und 14. Jahrhundert sah die Erforschung der Oxidationsprozesse und ihrer Auswirkungen auf den Tee und seinen Geschmack. Logische Folge war die Entwicklung von Methoden der Verarbeitung von schwarzem Tee sowie von Oolong-Tee. Das chinesische 6-Kategoriensystem der Klassifikation der Teesorten, wie wir es heute kennen, war damit komplett. Außerdem führten die neuen Verarbeitungsmöglichkeiten zu einer weiteren, potentiell praktisch grenzenlosen Diversifizierung des chinesischen Tee-Portfolios.
Klassische chinesische Teekanne – ein Meilenstein in der Entwicklung von Tee als Getränk
Zu Zeiten der Ming-Dynastie (1368-1644) setzte sich dann die bis heute gebräuchliche Methode der Teezubereitung durch: das Aufgießen ganzer Teeblätter. Die praktischen Anforderungen der neuen Zubereitungsmethode brachten auch die Entwicklung eines neuen „Instruments“ mit sich, der Teekanne. Interessantes Datum in diesem Zusammenhang ist die Herstellung des ersten Yixing-Teekännchens im Jahr 1492.
2.9. Die chinesische Teezeremonie
Parallel zur Entwicklung der Teezubereitung in Form des Aufgießens ganzer Blätter – und parallel zum Aufkommen des Oolong-Tees – entwickelte sich die chinesische Teezeremonie. Diese gilt heute als stärkstes Symbol der chinesischen Teekultur. Als solches ist sie quer durch alle Schichten in breiten Teilen der chinesischen Gesellschaft verankert. Sie besteht in der Kunst der fokussierten und bis zu einem gewissen Grad ritualisierten Zubereitung von Oolong-Tee über mehrere Aufgüsse hinweg. Ziel ist dabei nichts weniger als die Zubereitung des besten möglichen Oolong-Tees. Die Chinesen verstehen ihre Teezeremonie allerdings weniger als festes Ritual als vielmehr als einen flexiblen und individuellen Prozess. So weichen auch die typischerweise verwendeten Instrumente in verschiedenen Regionen Chinas leicht voneinander ab.
Klassisches chinesisches Teehaus, errichtet auf einem Teich
2.10. Teehäuser und Teestuben
Mit steigender Popularität von Tee als Getränk kamen in China zunehmend die Teestuben und Teehäuser auf. Man traf sich dort nicht nur zum Teetrinken, sondern debattierte alle Arten von Problemen und Belangen, ob persönlicher, gesellschaftlicher oder politischer Natur. Die Teehäuser spielten eine wichtige Rolle bei der Diffusion des Teegenusses in der breiteren chinesischen Bevölkerung.
Chin. Teehäuser – Wichtige Rolle bei d. Diffusion d. Teegenusses i. d. breiteren Bevölkerung
Übrigens, um den im eigenen Land produzierten Tee alle zu trinken, braucht China den Rest der Welt, also beispielsweise uns, eigentlich nicht. Von den im Jahr 2014 produzierten rund 2 Mio. Tonnen Tee – fast die Hälfte der Welt-Teeproduktion – wurden lediglich ca. 200.000 Tonnen exportiert. Den Rest trinken die Chinesen nicht nur selbst, sie importieren darüber hinaus auch noch Tee aus Taiwan und einer Reihe weiterer Länder.
Das Ritual er „Gong Fu Cha“ ist flexibel und bietet Freiraum zur persönlichen Gestaltung u. Entfaltung
Zur Fortsetzung, Teil 2 der Trilogie „Die Entwicklung von Tee als Getränk – Teekulturen der Welt“, geht es per Klick auf den folgenden Link:
Die Verbreitung der Teekultur in Asien
Und Teil 3 der Artikeltrilogie finden Sie hier:
(Land- und See-) Wege des Tees von China nach Russland und Europa